Verantwortung in der Politik
Aus
Kohle und Gas haben wieder Zukunft
Energiepolitik: Kernenergie sei nicht zu verantworten, weil niemand für die Folgen nach einer Katastrophe eintrete, sagt der Technik-Philosoph Walther Ch. Zimmerli, Präsident der TU Cottbus und Autor des folgenden Artikels. Er plädiert für den stärkeren Einsatz fossiler Energieträger mit anschießender CO2-Abscheidung und -Nutzung.
VDI nachrichten, Cottbus, 1. 4. 11, has
Manchmal dauert es etwas länger, bis wir Menschen etwas lernen, manchmal lernen wir es auch nie. Wann sich die erste Kernschmelze in einem Kernkraftwerk ereignet hat, wird so genau wohl nie bekannt werden.
Dass der zunächst nur als Störfall klassifizierte Unfall in Harrisburg im März 1979 in diese Kategorie gehört, darf heute als gesichert gelten. Die Katastrophe von Tschernobyl 1986 überstrahlte im Wortsinne alle anderen Stör- und Unfälle. Eine partielle Kernschmelze, die sich schon 1969 nach einem Kontrollverlust über das Kühlsystem des unterirdischen Versuchsreaktors Lucens in der Schweiz ereignet hatte, muss aus gegebenem Anlass erst jetzt wieder in Erinnerung gerufen werden. Dass dieser Reaktor ursprünglich unterhalb der ETH Zürich positioniert werden sollte, lässt einen noch heute frösteln.
Seit diesen Unfällen wird zwar nahezu pausenlos eine Risikodiskussion geführt, Lehren werden daraus aber nicht gezogen. Unmittelbar nach Tschernobyl habe ich – wie viele andere – darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um Denkfehler bei der Risikoanalyse, sondern vorwiegend um ein ethisches, genauer: ein verantwortungsethisches Problem handelte. Bis heute wissen wir nämlich aus prinzipiellen Gründen nicht, wen wir für Tschernobyl zur Verantwortung zu ziehen gehabt hätten: Obwohl die Folgen andauern, leben die damaligen Akteure zum großen Teil nicht mehr, und selbst die verantwortliche Sowjetunion ist in einer weltpolitischen Systemschmelze verdampft.
Wenn wir unter „Verantwortung“ verstehen, dass diejenigen, die sie übernehmen, bereit und in der Lage sein müssen, für die Folgen ihrer Handlung einzutreten, dann hat spätestens der Fall Tschernobyl gezeigt, dass niemand im Ernst behaupten kann, er oder sie übernehme im Wortsinne die Verantwortung dafür.
Der VDI hat sich nach Tschernobyl, eingedenk seiner eigenen Verantwortung, zu den „Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland“ geäußert und sich dabei auch mit der Frage „Ist die friedliche Nutzung der Kernenergie moralisch verantwortbar?“ befasst. In dieser Stellungnahme wurden die Entwicklung von Bevölkerungswachstum und Energieverbrauch auf der einen und der unterschiedlichen Arten, den daraus resultierenden Energiebedarf zu decken, auf der anderen Seite analysiert und – bereits damals – mit den klimarelevanten Veränderungen durch CO2 in Verbindung gebracht. Dabei kam der VDI zur Schlussfolgerung: „Es lässt sich ethisch nicht begründen und ist daher moralisch nicht verantwortbar, solche Kernenergie-Techniken weiterhin zu präferieren, die Gefährdungspotenziale wie Core-Schmelze nicht grundsätzlich ausschließen und bei denen die Frage der Entsorgung bzw. Endlagerung nicht so geklärt ist, dass zukünftigen Generationen die Möglichkeit bleibt, sich davon wieder zu trennen.“
Wie nach Tschernobyl war auch jetzt, nach dem Unglück in Fukushima, schnell die Erklärung „menschliches Versagen“ zur Hand. Schlampereien in der Wartung und eklatante Kommunikationsschwächen auf Seiten der Betreiberfirma Tepco sowie ein fragwürdiges Krisenmanagement durch die Regierung wurden als Ursachen für die Katastrophe namhaft gemacht. Dass der Auslöser ein Erdbeben und ein darauf folgender Tsunami von unerhörter Gewalt waren, geriet dabei fast ganz aus dem Blick, und in der Tat beherrschen auch eher die Feuerwehreinsätze zur Verhinderung weiterer Kernschmelzen in anderen Reaktorblöcken die Schlagzeilen als die Zehntausenden von Opfern der Naturkatastrophe.
Und damit zeigt sich das Hauptproblem, das weder durch Moratorien, seien sie nun wahltaktisch motiviert oder nicht, noch durch eilends einberufene Ethikkommissionen gelöst werden kann. Es geht nämlich um die doppelte Einsicht: Nicht die guten Absichten und die Gesinnung, sondern allein die Folgen von Handlungen definieren letztlich deren ethische Begründbarkeit und Moralität. Und selbst wenn das allen bewusst wäre, ginge es immer noch um mehr: Technik ist – darauf weist uns Fukushima unübersehbar hin – die Art und Weise, wie die Menschen die außermenschliche Natur verändern, und dabei spielt neben Mensch und Technik der andere Hauptspieler eine dominierende Rolle, eben diese außermenschliche Natur.
Wer Kernkraftwerke in erdbebengefährdetem Gebiet baut, muss das miteinberechnen. Wer das aber wirklich in Rechnung stellt, muss sich von der Illusion der vollständigen Berechen- und Beherrschbarkeit trennen. Natur ist – im Gegensatz zur Technik – per definitionem selbstorganisierend und daher niemals vollständig prognostizierbar.
Der verhängnisvolle Denkfehler, dass alles, was wissenschaftlich im Nachhinein erklärbar ist, auch vorweg prognostizierbar gewesen wäre, ist spätestens seit der Theorie des deterministischen Chaos als überholter mechanistischer Aberglaube entlarvt. Verantwortlich sind wir auch für solches, was wir nicht vorher schon prognostizieren konnten. Moralische Verantwortung in technikbezogenen Zusammenhängen heißt dann eben: für die Folgen seiner Handlungen eintreten, auch und gerade dann, wenn man sie nicht vorhergesehen hat oder gar nicht vorhersehen konnte.
Dass es vollständig beherrschbare Technologien gibt, ist ebenso ein Mythos wie die Vorstellung, dass es beherrschbare und nicht beherrschbare, gute und böse Technologien gibt. In Wahrheit geht es in den vielen Fällen, die nicht kategorisch entschieden werden können, immer um eine Abwägung.
Wo aber Gefahr ist, wächst – mit Hölderlin – das Rettende auch. Und damit eröffnet sich vielleicht in der Katastrophe doch noch eine alles entscheidende Chance. Wir wissen, dass wir in ein Zeitalter der regenerativen Energien übergehen, weil wir in dieses Zeitalter übergehen wollen (oder müssen), und wir wissen außerdem, dass wir derzeit den Energiebedarf mit regenerativen Energien nicht vollständig decken können, obwohl der Anteil an Energieproduktion durch regenerative Energien steigt. Wenn wir aber dies alles wissen und außerdem nun definitiv nicht mehr davon ausgehen können, dass die verfügbare Kernenergietechnologie Kernschmelzen ausschließen kann, folgt daraus, dass wir uns – nun aber ernsthaft – auf die Suche nach einer anderen Überbrückungstechnologie machen müssen.
Und da brauchen wir nicht weit zu suchen; alle Verfügbarkeitsanalysen und alle geologischen Resultate sprechen eine deutliche Sprache: Verfügbar sind auf Sicht weiterhin die fossilen Brennstoffe, kurz- und mittelfristig Erdöl, eher langfristig Gas und Kohle. Das Problem, das es dabei zu lösen gilt, ist ebenfalls klar: Es ist der Umgang mit Kohlendioxid (CO2).
Und hier gilt es nun, mit den scheinheiligen Kassandrarufen und dem politischen Aktionismus endlich Schluss zu machen: CO2 muss abgeschieden und anschließend genutzt werden. Ob es sinnvoll ist, hierfür CO2-Zwischenlager anzulegen, ist eine wissenschaftlich und politisch noch nicht abschließend geklärte Frage. Sicher aber ist, dass eine nachhaltige Lösung – und wir werden noch für die nächsten 200 Jahre auf fossile Brennstoffe angewiesen sein – nur dann möglich ist, wenn die stoffliche Nutzung von CO2 und die dazugehörigen Kohlenstoffkreisläufe bekannt und erforscht sind. Das Ende des Nuklearzeitalters führt nur auf dem Wege über den Kohlenstoffkreislauf in die Ära der regenerativen Energien. WALTHER CH. ZIMMERLI
Walther Ch. Zimmerli
-ist Präsident der TU Cottbus. Zuvor war er Mitglied des Top-Managements bei Volkswagen, Präsident der privaten Universität Wirten-Herdecke und Lehrstuhlinhaber für Philosophie an den Universitäten Braunschweig, Bamberg, Erlangen-Nürnberg und Marburg.
-Von 1984 bis 1990 war Zimmerli Vorsitzender des Bereichs Mensch und Technik im VDI.