Islam2

Aus

Wechseln zu: Navigation, Suche

Islam https://www.vdi-nachrichten.com/Technik-Gesellschaft/Keine-Trennung-Religion-Wissenschaft


Keine Trennung von Religion und Wissenschaft

Von Johannes Wendland | 5. Februar 2016 | Ausgabe 05

Viele Wissenschaftler in muslimischen Ländern lehnen die Grundsätze der Aufklärung ab, sagt der Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er glaubt nicht, dass die muslimische Welt in absehbarer Zeit an die von Vernunft geprägte, aber verschüttete eigene Tradition anschließen könne.

Foto: Panthermedia/lustra

Der Koran sei ein Hindernis auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft, sagen Orientalisten.


Der Abstand zwischen dem Westen und der muslimischen Welt in Technik und Wissenschaft ist offenkundig – spätestens seit der Aufklärung und der industriellen Revolution. Der Orientwissenschaftler Bernard Lewis spricht vom „Scheitern der Modernisierung“ in der islamischen Kultur und belegt die Abschottung von Wissen und kulturellen Einflüssen mit einer eindrucksvollen Zahl. So wurden Anfang des Jahrtausends im arabischen Raum pro Jahr rund 330 Bücher übersetzt – ein Fünftel der Titel, die in dem kleinen Griechenland übersetzt worden sind. Diese Rückständigkeit gab es nicht immer. Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert herrschte ein „islamischer Rationalismus“, eine Phase der Aufklärung im islamischen Denken, sagt der in Damaskus geborene Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der an der Universität Göttingen lehrte. „Die Muslime waren auf einem hohen Entwicklungsstand, solange sie freies Denken zugelassen haben.“ In den darauf folgenden Jahrhunderten hat die aufgeklärte Wissenschaft laut Tibi den Kampf um die Bildungsstätten verloren. In den aufkommenden Medressen – den seit dem 10. Jahrhundert gegründeten Schulen, in denen islamische Wissenschaften gelehrt werden –, habe sich die religiöse Orthodoxie durchgesetzt. Seit dem 19. Jahrhundert würden die Muslime verstärkt fragen, woher der Entwicklungsrückstand käme, und es gebe zunehmend Bestrebungen, den Anschluss an die technisch-wissenschaftliche Moderne des Westens zu finden, ohne dessen kulturelle Modernisierung zu übernehmen. Tibi hat keine große Hoffnung, dass die Wissenschaften in den islamischen Ländern über kurz oder lang an die vernunftorientierte Tradition des „goldenen Zeitalters“ anschließen können. Für eine eine empirische Studie hat er mehr als 2000 Interviews mit Wissenschaftlern in verschiedenen islamischen Ländern geführt. Dabei musste er feststellen, dass eine Mehrheit die Grundsätze einer aufklärerischen Moderne ablehnte, zu der in erster Linie eine strikte Trennung von Religion, Politik und Wissenschaften gehört. Dass dies eine „typisch islamische“ Haltung sei, sieht Tibi indes nicht. „Die Grundlagen für die Trennung von Religion und Politik hat der Islam im Mittelalter selbst gelegt“, sagt er. „Was Sie später bei Kant über die Vernunft lesen, können Sie bereits bei Ibn Ruschd (Averroes) im 12. Jahrhundert finden. Das Konzept eines Primats der Vernunft in den Wissenschaften ist nicht spezifisch europäisch und keine europäische Erfindung.“ Für den seit 1962 in Deutschland lebenden Tibi ist die Trennung von religiösem und naturwissenschaftlich-technischem Wissen ein zentraler Faktor dafür, dass Wissenschaften frei betrieben werden können. Die entscheidende historische Zäsur in der Entwicklung der islamischen Welt sieht der Freiburger Islamwissenschaftler Ulrich Rebstock in der Eroberung und Plünderung der Metropole Bagdad durch die Mongolen 1258. Die Beseitigung des abbasidischen Kalifats durch die Mongolen sei ein „traumatisches Erlebnis“, so Rebstock. Dennoch sei es nicht in der islamischen Welt zu einem Abbruch der wissenschaftlichen Entwicklung gekommen. Neue Zentren hätten sich gebildet, etwa in Zentralasien oder Nordafrika. Dabei sei zum Teil noch weitgehend unbekannt, welche Leistungen in der islamischen Welt etwa in der Zeit zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert vollbracht wurden. „Die islamische Welt hat sich in dieser Zeit stark ausgebreitet“, erklärt Rebstock. „Es gibt viele Bibliotheken, in denen noch große Mengen an nicht aufgearbeiteter Literatur liegen. Allein in Taschkent befinden sich 120 000 Handschriften aus dem türkisch-persischen Raum, zum Beispiel mit mathematischen Inhalten.“ Junge Wissenschaftshistoriker würden die Leistungen islamischer Astronomen und Mediziner in der Zeit vor dem Kolonialismus untersuchen und kämen zu spannenden Erkenntnissen, sagt Rebstock. „Man kann nicht holzschnittartig von einem Niedergang sprechen.“ Wenn von Rückständigkeit die Rede ist, heißt das nicht, dass Muslime Wissenschaft und Technik grundsätzlich ablehnen. Im vergangenen Jahr erhielt Aziz Sancar den Nobelpreis für Chemie. Er wurde 1946 als eines von neun Kindern in der türkischen Provinz Mardin geboren und studierte Medizin an der Universität Istanbul. Seit 1973 lebt er in den USA, wo er seine bahnbrechenden Untersuchungen über Reparaturmechanismen der DNA im menschlichen Körper durchführte. Sancar ist einer von zwölf Muslimen, die seit 1901 einen Nobelpreis erhalten haben. Selbst Islamisten nutzen Technik. Aus mehr als 20 Ländern sollen die Waffen stammen, die die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bei ihrem Krieg in Syrien und dem Irak erbeutet hat und einsetzt, um die eroberten Territorien zu verteidigen. Die Rekrutierung der IS-Kämpfer erfolgt nicht nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda, sondern auch über Propagandafilme auf Internetkanälen wie YouTube und Botschaften über die sozialen Netzwerke. So verknüpft sich eine vormoderne Ideologie mit hochmoderner und topaktueller Technik. Auf einem Feld hat ein islamisches Land die Lücke zum Westen geschlossen: beim Bau der Atombombe. Das politisch wenig stabile Pakistan verfügt nach Einschätzung des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI über rund 110 Atomsprengköpfe. Rebstock und Tibi sind sich einig darin, dass es gegenwärtig kein großes Interesse im islamischen Raum gibt, an die Trennung von Wissenschaft und Religion anzuschließen. Der Fundamentalismus, die politischen und gesellschaftlichen Krisen in den arabischen Staaten, die autoritären Systeme in vielen Ländern und der Terrorismus – die Zeichen stehen nicht gut, um ein kulturelles Selbstbewusstsein zu entwickeln, das die eigenen Leistungen nüchtern und positiv würdigen kann, ohne in blinden Chauvinismus zu entgleiten oder ständig mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen. 

Persönliche Werkzeuge
MediaWiki Appliance - Powered by TurnKey Linux